„People are disabled by society, not by their bodies“ lautete ein Slogan der Britischen Körperbehindertenbewegung in den 1970er Jahren, der etwa 20 Jahre später in Deutschland  mit den Worten übersetzt wurde: „Man ist nicht behindert. Man wird behindert.“ Dahinter stand eine heute zum Allgemeingut gewordene Einsicht: das, was wir Behinderung nennen, hat mit sozialen „Barrieren“ der vielfältigsten Art zu tun. Aber spielt deshalb der Körper (samt „Psyche“ und „Geist“) bzw. eine in medizinischen Kategorien fassbare Schädigung keine Rolle für Behinderung? Ist Behinderung deswegen nur etwas im „Auge des Betrachters“, ein „Bild, das wir uns machen“, eine „gesellschaftliche Konstruktion“, ein „sozialer Diskurs“, oder neuerdings: lediglich eine Form "sozialer Diversität“? Das ist immer  a u c h  so, aber das Schwierige am Thema "Behinderung" ist, dass es nicht  n u r  so ist. Behinderungen werden konstruiert, weil es Behinderungen in der Wirklichkeit  g i b t .

In dieser Veranstaltung soll versucht werden, den verschiedenen Dimensionen und Aspekten des komplexen Phänomens Behinderung von vorne herein Rechnung zu tragen. Dies soll auf der Grundlage einer präzisen Bestimmung des Verhältnisses von Körper und Gesellschaft geschehen. Soziale Praxis ist immer körperlich und der Körper ist immer sozial. Schon deshalb kann es keinen strikten Gegensatz zwischen einem „sozialen“ und einem „medizinischen“ Modell der Behinderung geben. Weder kann Behinderung nur auf ein „Bild“, das wir uns machen, reduziert werden, noch nur auf eine symbolische Konstruktion, aber eben auch nicht nur auf die Realität einer körperlichen Schädigung. Das Schwierige ist, dass Behinderung dies alles immer zugleich ist.

Wir werden darüber diskutieren, was Behinderung eigentlich ist, und uns – unter anderem in Anlehnung an das Behinderungsmodell der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) - ein biopsychosoziales Verständnis von Behinderung erarbeiten, in dem wir die Vereinseitigungen und Dichotomisierungen pädagogischer und erziehungswissenschaftlicher Diskurse vermeiden und dabei immer auch aktuelle Diskussionen über Behinderung und Gesellschaft (z.B. Inklusion) mit einbeziehen.

 In diesem Sinne wird es darauf ankommen mindestens drei Aspekte miteinander zu verknüpfen und in ihrer wechselseitigen Verschränkung zu betrachten:

  • soziale Produktion: Sowohl körperliche wie kognitive und psychische Behinderungen bzw. die mit ihnen zusammen hängenden Schädigungen können durch soziale Verhältnisse kausal verursacht werden, z.B. durch Armut, Gewalt, deprivierende Lebensverhältnisse. Besonders interessant sind hier neuere Studien über den Zusammenhang von Armut, Stress und kognitiver Leistungsfähigkeit im Spannungsfeld von Soziologie und Neurowissenschaften.
  • soziale Reaktion: das soziale Umfeld reagiert auf Behinderung, egal, welche Ursachen sie hat. Diese Reaktion – positiv, negativ (stigmatisierend), zumeist aber: ambivalent – tritt mit der Behinderung unmittelbar in Interaktion und bestimmt ihre individuelle und soziale Realität mit. In diesem Zusammenhang soll auch ein soziologischer Blick auf die Frage der Inklusion und Integration behinderter Menschen geworfen werden.
  • soziale Konstruktion: Behinderungen werden auf verschiedenen Ebenen (Gesellschaft, Familie, persönliche Beziehungen) sozial ausgedeutet und interpretiert und umgekehrt: die sozialen Deutungsmuster prägen ihre Wirklichkeit und die sozialen Reaktionen wesentlich mit. Insbesondere die sogenannten Disability Studies beschäftigen sich mit diesem Aspekt der kulturellen Relativität von Behinderung. Wir werden uns an zwei kontrastierenden Beispielen mit der sozialen Konstruktion von Behinderung befassen: den sogenannten „Freakshows“ und der nationalsozialistischen Propaganda („Rassenhygiene“).

Es geht um theoretische Probleme, aber immer auch um empirische Befunde und um die Analyse von Beispielen.

Literatur:   
Im Zentrum steht das für dieses Seminar konzipierte Lehrbuch: Jörg Michael Kastl "Einführung in die Soziologie der Behinderung", Wiesbaden 2017 (2. Auflage!), über das jede/r Teilnehmer*in verfügen sollte. Von Sitzung zu Sitzung müssen die jeweiligen Kapitel von den TeilnehmerInnen gelesen werden. Hinzu kommen Präsentationen der Teilnehmer*innen zu dazu passenden Zusatzthemen, Vorschläge dazu finden sich am Ende der jeweiligen Kapitel.