Menschenrechte, Sozialrecht und Behinderung. Do 18.15 – 19.45 Uhr

Behinderung ist in der modernen Gesellschaft auch und vor allem eine rechtliche Kategorie. Als solche ist sie – im Verbundmit den entsprechenden institutionellen Strukturen - ausschlaggebend darüber, welche Lebensmöglichkeiten behindertenMenschen in der modernen Gesellschaft offen stehen oder verschlossen bleiben. Das beginnt bereits bei der Frage, obdie Abtreibung eines ungeborenen mutmaßlich behinderten Kindes straffrei möglich ist oder nicht. Wie Menschen mit Behinderungen ihr Leben gestalten können, wie und wem sie wohnen und leben, ob und mit welchen Hilfen sie einer Schul- oder Berufsausbildung und –Tätigkeit nachgehen können oder nicht – das hängt nicht zuletzt von Rechtsansprüche auf Sozialleistungen ab, ohne die sie möglicherweise die dabei nötig werdenden Unterstützungsformen und Hilfen nicht finanzieren können. Politische Auseinandersetzungen über gesellschaftliche Lebensmöglichkeiten behinderter Menschen werden deshalb wesentlich auch in Form von Konflikten über rechtliche Normierungen ausgetragen. Das zeigt auch die bildungs- und sozialpolitische  Diskussion über die Inklusion behinderter Menschen. Ihr Hauptauslöser war eine Rechtsnorm, nämlich die sogenannte „UN-Behindertenrechtskonvention” (UN-BRK). Sie bekräftigt die eigentlich selbstverständliche Einbeziehung (Inklusion) auch behinderter Menschen in alle Menschen- und Grundrechte. Allerdings machen Grund- und Menschenrechte in den wenigsten Fällen Vorgaben über spezifische sozial- oder bildungspolitische Strukturen oder gar einzelfallspezifische Entscheidungen. Sie müssen als solche auf einem hohen Generalisierungsniveau formuliert sein, schon ihr verfassungsrechtlicher Status ist jeweils komplex. In konkreten Entscheidungs-situationen stehen verschiedene Menschen- und Grundrechte (oder auch gleichen Rechte verschiedener Personen) in aller Regel in einem Spannungsverhältnis. Allein schon deshalb sind Menschenrechte in ihren konkreten Konsequenzen in hohem Maß auslegungsbedürftig, in ihren rechtlichen und politischen Bindungseffekten unscharf. Dennoch oder gerade deshalb hatte die Berufung auf faktische oder auch nur vermeintliche Menschenrechte schon immer die wichtige Funktion, für politische Anliegen öffentliche Aufmerksamkeit zu finden und zu mobilisieren und die grundsätzliche Inklusion aller in alle Funktionsbereiche der modernen Gesellschaft zu deklarieren. Dieser Zusammenhang von Menschenrechten und Inklusion wurde von der Soziologie - lange vor der erst in den 2000er-Jahren einsetzenden Diskussion in den Erziehungswissenschaften und der Sonderpädagogik bereits in den 1950 und 1960-er Jahren analysiert. Für die Frage der faktischen Einbeziehung (behinderter) Menschen in die Gesellschaft und ihre verschiedenen Funktionssysteme (Beruf, Bildung, Privatleben und Familie, Kultur, Recht u.a.) ist aber nicht so sehr die Ebene der Menschenrechte entscheidend, sondern deren Konkretisierung in den Rechtsnormen des Sozialrechts, des Schulrechts, des bürgerlichen Rechts. In dem Seminar wird es also darum gehen der Überschätzung der rechtlichen Bindungswirkungen von Menschenrechten(bzw. konkret: der UNBRK) in der (Sonder-) Pädagogik ein realistischeres Verständnis des sehr viel komplexeren Zusammenhangs von Menschenrechten, Verfassungsrecht und konkreter Rechtsgebiete (z.B. Sozial- und Schulrecht, bürgerliches Recht) entgegenzusetzen und von da aus die spezifischen und begrenzten gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Funktionen von Grund- und Menschenrechten zu verstehen; zu erarbeiten, welche Bedeutung konkrete Rechtsnormen für die Lebens- und Teilhabechancen behinderter Menschen zum Beispiel in den Lebensbereichen Bildung, Wohnen, Arbeiten haben; die derzeit wegen des schrittweisen Inkrafttretens des Bundesteilhabegesetzes komplexe Rechtslage (z.B. Schulrecht, Eingliederungshilfe) kennenzulernen und kritisch zu diskutieren.