Eine verbreitete Ansicht in Philosophie, Psychologie und Kognitionswissenschaften ist, dass uns die Vernunft [reason] von Tieren unterscheidet (da die Evolution nur uns damit beglückt hat) und die Vernunft uns (als individuelle Denker) zu Erkenntnis und besseren Entscheidungen führt, die Tieren nicht zugänglich sind.

              Dan Sperber und Hugo Mercier argumentieren in ihrem 2019 veröffentlichten The Enigma of Reason: A New Theory of Human Understanding dafür, dass sich mit dieser Ansicht ein doppeltes Rätsel oder Mysterium [enigma] ergibt. (1) Wenn Vernunft so unglaublich nützlich ist, warum hat sie sich dann (anders als z.B. Flügel) nur bei Menschen entwickelt? (2) Zahlreiche Experimente zeigen, dass unsere Vernunft die oben beschriebene Funktion oft nicht erfüllt. Wir scheitern in vielen Situationen als individuelle Denker zuverlässig daran, mithilfe der Vernunft zu Erkenntnis oder besseren Entscheidungen zu gelangen. (Schauen Sie mal selbst, wie es um Ihren solitären Vernunftgebrauch steht: https://www.nytimes.com/interactive/2015/07/03/upshot/a-quick-puzzle-to-test-your-problem-solving.html) Wie kann das sein, wenn das doch die Funktion der Vernunft ist?

              Sperber & Mercier schlagen vor, dass wir uns tausende von Jahren darüber getäuscht haben, wozu unsere Vernunft eigentlich gut ist. Ihnen zufolge ist Vernunft nichts, das solitären Denkern zu Erkenntnis oder besseren Entscheidungen verhilft, sondern etwas, womit wir unsere eigenen und die Rechtfertigungen anderer prüfen und das eben nicht solitär, sondern wesentlich in der Kooperation und Interaktion mit anderen – etwas, das Tiere scheinbar nicht im selben Maße tun wie wir. (Ob Tiere keine Vernunft haben, werden wir im Seminar wahrscheinlich ausklammern.) Auf diese Weise wollen Sperber & Mercier jedenfalls das doppelte Mysterium lösen.

              Im Seminar werden wir die Argumentation der beiden nachvollziehen und prüfen. Besteht tatsächlich solch ein doppeltes Mysterium und schlagen die beiden tatsächlich eine gute Lösung vor? Vorausgesetzt wird die Bereitschaft, den Text auf Englisch zu lesen. (Eine deutsche Übersetzung existiert ohnehin nicht.) In den ersten Sitzungen wird der Text bereitgestellt, letztlich schaffen Sie sich aber bitte folgende Ausgabe an:

  • Sperber, Dan & Mercier, Hugo. 2019. The Enigma of Reason: A New Theory of Human Understanding. London, Penguin Books.

[“Filled with lively stories and vivid examples (involving ants, monsters, mosquitoes and dust bunnies, as well as paltry humans)” – Times Literary Supplement]